Wiederaneignung der verlorenen Macht

Das Erschüttern erschreckt hundert Meilen.
Und er läßt nicht Opferlöffel noch Kelch fallen.
I Ging, Kommentar zu Zeichen 51

Du kannst die Welt mit den Augen eines Opfers sehen
oder als Abenteurer auf dem Weg zu seinem Schatz.
Paolo Coelho

Heilung ist die Wiederaneignung der verlorenen Macht. Mit „Macht“ meine ich nicht Herrschaft über andere, sondern die Präsenz der eigenen Kräfte, die Präsenz der Wahrnehmung auch in kritischen Situationen, die Präsenz eines uneitlen höheren Selbstbildes und einer höheren Verbundenheit. Es ist nicht die Macht über andere, sondern die Macht über uns selbst: nämlich die Fähigkeit, durch eigene Entscheidung eine emotionelle Bewegung zu stoppen, wenn sie nach unten zieht, einen Gedanken zu denken oder nicht zu denken, eine Reaktion auszuführen oder zu unterlassen, aus den alten Reaktionen von Angst oder Wut oder Rache auszutreten und das, was wir erreichen wollen, so fest bei uns zu haben, daß man es uns nicht mehr nehmen kann.

Was wollen wir denn erreichen? Zum Beispiel in der Liebe? In der Begegnung mit einem begehrten Menschen? Auf einer politischen Tagung? In einer gespannten Situation mit unseren Freunden oder Gegnern? In unserem persönlichen und beruflichen Leben? Wir können die Antworten nicht vorher finden, wir müssen etwas wiedergefunden haben von der verlorenen Macht, um die Frage zu verstehen und ihr ernsthaft begegnen zu können.

Die Friedensbewegung ist angewiesen auf die persönliche Macht ihrer Akteure. Auf ihre Geistesgegenwart, ihre Kühnheit, ihre Großzügigkeit gegenüber den eigenen Fehlern und denen anderer, ihre Liebesfähigkeit und nicht zuletzt auch auf ihre sexuellen Kräfte. Es geht in allen Bereichen darum, auch in heißen Situationen nicht mehr „aus dem Hara zu fallen“, das heißt, die Macht nicht mehr an andere abzugeben, sich nicht mehr dem Blickfeld fremder Autoritäten zu unterwerfen und in jeder Situation „die blaue Kugel der Kraft“ bei sich zu behalten. Die Gegner, die menschlichen wie die politischen, haben ihre Macht nur so lange, wie andere vor ihnen Angst haben und auf sie projizieren. Die ganze Welt der Angst ist eine virtuelle Welt, wo wir Bilder der Vergangenheit in gegenwärtige oder zukünftige Situationen projizieren und dabei die Macht an andere abgeben. Es bedarf eines guten mentalen Trainings, um diese Zusammenhänge wirklich zu durchschauen. Keine Angst basiert auf einer objektiven Realität, jede Angst basiert auf einer Projektion, die erst dadurch zur Realität wird, daß wir sie für Realität halten und mit Angst auf sie reagieren.

Das sind zentrale Erkenntnisse eines langen Studiums unserer Lebenszusammenhänge. Jeder gute Samurai-Kämpfer hat sie gekannt. Das sind Dinge, die gelernt und geübt werden müssen, damit sie im richtigen Augenblick zum Tragen kommen. Bisher werden viele Möglichkeiten in unserem Leben dadurch verspielt, daß wir nicht unserer Macht, sondern unserer Ohnmacht den Vortritt lassen. Wir rutschen ab in die Dauerabsencen unseres alltäglichen Lebens. Wir sind dann so abgetaucht, daß wir in einen Supermarkt gehen und die Dinge, die dort in den Regalen stehen, für ernsthafte Realität halten. In diesem Fall haben wir die Macht an die Dinge abgegeben. Oder wir glauben, jetzt einen riesigen Hunger zu haben auf ein bestimmtes Gericht. Auch solche scheinbar ganz normalen Lüste und Bedürfnisse sind bestens geeignet, uns auf der Stelle von der höheren Frequenz zu entfernen und uns unbemerkt auf einer Frequenz niederzulassen, wo uns zwar das Essen schmeckt, wo wir aber nicht gewappnet sind für eine unvorhergesehene Situation der Angst. Vielleicht genügt schon das Erscheinen einer blendend aussehenden Frau, um in innere Bedürftigkeit zu verfallen und die blaue Kugel auf der Stelle zu verlieren. Dann bleibt uns vor jähem Schrecken der beste Biß im Halse stecken. Das ist normal bei uns Menschlichen, muß aber nicht so bleiben.

Es gibt klare Hinweise für die Wiederaneignung der Macht und für den inneren Sieg eines Friedensarbeiters. Zunächst sollten wir uns darüber klar werden, daß die gewünschte Macht immer bei uns ist, wenn wir sie nicht durch falsche Manöver verscheuchen, denn wir sind Kinder, Partner und Organe Gottes und des Universums. Dann sollten wir uns darüber klar werden, wodurch der Mensch die Macht verloren hat und was zu tun ist, um sie zurückzuholen.

Man hat uns einen Teil unserer Macht schon in der frühen Kindheit abgenommen. Unsere Eltern haben nämlich gedacht, wir seien kleine süße Kinder mit Stupsnase und viel Unvernunft. In Wirklichkeit sind wir kosmische Wesen, die aus der anderen Welt gekommen sind und sich erst einmal zurechtfinden mußten auf der Erde. Wir besaßen dafür eine ungeheuer hohe Ausstattung an Geist, Wahrnehmung und Lernfähigkeit. Wir waren geistig so wach wie kaum jemals danach. Es ist eine ungeheure Wachheit, die aus den Augen eines Säuglings schaut. In vieler Hinsicht wußten wir viel mehr als unsere Eltern, denn die Erinnerungen an die Existenz im kosmischen Raum waren noch frisch. Erst nach einem langjährigen Durchlauf durch eine merkwürdige Art von „Erziehung“ haben wir es gelernt, so „vernünftig“ und so engstirnig zu werden wie sie. Die Verniedlichung und Verkleinerung, die wir erfahren haben, haben wir oft durch ohnmächtige Verzweiflungen oder Wutanfälle quittiert, mehr konnten wir nicht tun, denn die Erwachsenen waren viel größer und stärker. Für die Erwachsenen waren unsere Unbotmäßigkeiten umso mehr Grund, uns an ihre Normen anzupassen. Dadurch wurden sie für uns zur höheren Autorität, und wir begannen zu glauben, daß man so sein müsse wie sie. Auch wenn wir dagegen rebellierten, sind wir so ähnlich geworden. Sie selbst aber waren Menschen, die ihre Macht zum größten Teil bereits abgegeben hatten. Wie hätten wir das wissen sollen?

Die weitere Machtenteignung geschah durch drei Dinge: durch die Einengung unseres Erkenntnistriebes (Neugier), durch die Einengung unseres Bewegungstriebes und durch die Einengung unserer Sexualität. Neugier, Bewegungstrieb und Sexualität gehören zur Grundausstattung der Kraft, mit dem jeder Mensch die Erde betritt. Wieviel reale Kraft eine Person im Leben entwickeln kann, hängt davon ab, wie weit sie in der Lage ist, diesen drei Grundkräften zu folgen und sie in ihr Leben zu integrieren. Erinnern wir uns noch, mit welchem Eifer wir einmal wissen wollten, was hinter einer Burgmauer verborgen war, wohin der Eingang zu einer Höhle führte oder was sich im Inneren einer Kastanie befand? Wir besitzen als Kinder eine fast metaphysische Neugier, die auf dem Weg ist, hinter den äußeren Zeichen des Lebens etwas überaus Interessantes zu suchen und zu finden, fast wie Parzival auf der Suche nach dem heiligen Gral. Wer neugierig ist, lebt in der Wahrnehmung. Starke Neugier überwindet fast jede Angst, sie ist eine echte Kraft des Lebens, der Heilung, der Befreiung. Es war eine diabolische Maßnahme der menschlichen Kulturgeschichte, als sie anfing, den Menschen auf ihre elementarsten Fragen fertige Antworten vorzusetzen und ihnen die eigenen Nachforschungen zu verbieten. Wer eine andere Antwort suchte als die von Staat und Kirche vorgegebene, riskierte sein Leben. Auf Wahrheit stand Todesstrafe (siehe Giordano Bruno und die ganze Geschichte der Ketzerbewegung). Vielleicht war dies – neben der sexuellen Enteignung – die stärkste Methode der Entmachtung.

Heilung ist die Wiederaneignung der verlorenen Macht in allen Bereichen. Das mag eine heroisch klingende Definition sein, sie trifft aber einen tieferen Kern der Sache, und warum sollten wir nicht ein bißchen heroisch sein? Gemeint ist, daß wir einen „Weg der Kraft“ wiederfinden müssen, der uns positiv immunisiert gegenüber unseren alten Anfälligkeiten. Don Juan (der Lehrer von Carlos Castaneda)  nennt ihn auch den „Weg der Herzens“. Macht und Liebe, Kraft und Herz stehen hier nicht im Widerspruch, sondern verbinden sich. Der Weg der Kraft besteht darin, den Energien des Lebens zu folgen und nicht den äußeren Gesetzen oder den Launen der Stimmung. Jede Situation enthält eine bestimmte Mana-Energie, die wir durch unser Verhalten entweder für uns nutzen oder gegen uns lenken können. Wer den Weg der Kraft geht, lernt es Schritt für Schritt, sich mit diesen Energien zu verbinden. Er wird dafür nicht immer äußere Erfolge erzielen, aber er wird an Macht gewinnen. Jacques Lusseyran, der erblindete Widerstandskämpfer in der französischen Résistance, ging, wie er selbst schreibt, eine Weile lange „siegreich von Niederlage zu Niederlage“. Das ist ein sehr ungewöhnlicher Lernprozeß, denn wir stoßen überall an Stellen, wo wir bisher infolge unserer alten Gewohnheiten nicht im Sinne der Kraft, sondern der Lähmung gehandelt haben. Vor allem in den Bereichen, wo wir bisher mit Angst oder Wut oder Trotz reagiert haben, kommen vollkommen neue Lernaufgaben auf uns zu. Wir treten in eine Grundausbildung des Lebens, die uns nach und nach befähigt, in uns selbst wieder soviel Macht zu versammeln, daß wir auf keine Gefahren mehr mit Angst reagieren müssen, weil wir aufgehoben und geborgen sind in einer höheren Verbundenheit. Wir brauchen jetzt die alten Angstzonen unseres Lebens nicht mehr zu umgehen, denn sie bieten den Lernstoff, den wir brauchen, um zur letzten Erkenntnis und Ruhe zu kommen. Die ganze Welt ist jetzt die Bühne, auf der sich unsere Daseinsverwunderung abspielt.

In unseren Exerzitien haben wir immer wieder die Befolgung und Bewahrung der Kraft geübt. Es ist die Übung, die ich ohne Ausnahme allen empfehlen kann. Bei einer Fahrt in die Algarve ging ich abends mit einer Freundin zum Billardspielen. Ich freute mich darauf, so zu spielen, daß die Kraft bei mir blieb; und heimlich freute ich mich auch darauf, ihr mein Können zu zeigen. Es fing gut an, aber nach einiger Zeit klappte nichts mehr. Irgendwie konnte ich die Kugeln nicht mehr richtig treffen. Ein paarmal ertappte ich mich dabei, wie ich richtig ehrlich und voll identifiziert „Scheiße!“ sagte. Nicht einmal der erotische Flair der Frau konnte mich davon abhalten. Ich war mit irgend etwas tief uneinverstanden, fühlte mich ungerecht behandelt vom Leben und geriet in einen irrationalen Ärger über das Spiel im besonderen und die Welt im allgemeinen. „Immer geht das so, wenn man sich gerade gut fühlt!“ Ich merkte schnell, daß ich tatsächlich aus dem Gleis geraten war. Ein paar mißglückte Stöße hatten genügt, um mich aus der Bahn der Kraft zu werfen. Prentice Mulford beschreibt diesen Vorgang bei seinem erfolglosen Versuch, einen Schubkarren ohne innere Erregung über einen Gartenweg zu führen (in seinem köstlichen Buch „Über den Unfug des Lebens und des Sterbens“). Unser Leben ist voller Kraftverplemperungen, denen wir tagtäglich und vollautomatisch zum Opfer fallen, wenn wir uns unseren inneren Gewohnheiten und Dialogen anheimgeben. Nach dem Billardspiel begegnete ich den Blicken eines Zuschauers und verlor die Macht über meine Augen, weil ich mich für mein schlechtes Spiel schämte. So einfach geht das. Es dauerte eine Weile, bis ich die Frequenz der Kraft wieder aufnehmen konnte und in die Verbundenheit zurückkehrte. Es war eine Lehre. So ähnlich spielt sich das Leben ab, wenn man sich in dieser Art von Ausbildung zur Wiederaneignung der verlorenen Macht befindet. Es ist leicht vorstellbar, bei welchen inneren Irrläufern man sich ertappt, wenn man diese Ausbildung im Bereich  von Sex und Liebe eingeht. Im Grunde sind es zwei verschiedene Weltvorgänge, zwischen denen wir hin und her pendeln, ein Vorgang der Ego-Welt und ein Vorgang der universellen Welt, und Freiheit entsteht – auch beim Billardspiel – eindeutig auf der Seite der universellen Welt.

Wiederaneignung der verlorenen Macht. Es ist nicht die eigene Macht, die man aus eigenen Kräften hat, sondern es ist die Macht, die man natürlicherweise hat aus der Verbundenheit mit den Kräften Gottes und des Universums. Diese Macht kennt keine Grenzen, sie ist durch viele Menschen gegangen und hat viele „Wunder“ bewirkt. Warum hatte Jesus die Macht, Kranke zu heilen, warum hatte Rüdiger Nehberg die Macht, im Tretboot über den Atlantik zu fahren und seine unglaublichen Abenteuer zu überleben? Warum hatte Reinhold Messner die Macht, alle 14 Achttausender Gipfel im Himalaya zu besteigen? Warum hatte Johannes Hus die Macht, auf dem Scheiterhaufen zu singen? Warum hatten Frauen wie Hildegard von Bingen, Elsa Brandström, Mutter Theresa, Ruth Pfau und andere die Macht, ihr riesiges Heilungswerk zu tun? Weil sie alle mit ihrer höheren Macht verbunden waren. Sie alle und viele mehr geben uns ein lebendiges Zeugnis von dem, was Menschen leisten können, wenn sie wiedervereinigt sind mit der höheren Macht. Gandhi war ein einzelner Mann. Ihm gelang es, das riesige Indien aus der englischen Kolonialherrschaft zu befreien. Sollte es uns heute nicht gelingen, uns aus der Kolonialherrschaft der alten Zivilisation und ihrer verkehrten Matrix zu befreien?

Auszug aus dem Buch „Die heilige Matrix“ von Dieter Duhm

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