Entscheidungsfindungprozesse in Gemeinschaft

 

Wir erproben derzeit ein neues, integratives Entscheidungsfindungssystem, das sich auf “consent” stützt, also auf Zustimmung oder Einwilligung. . Innerhalb der Gemeinschaft werden Entscheidungen von den Menschen getroffen, die davon betroffen sind; sie beraten sich dabei mit denjenigen, die über Fachwissen und/oder Ressourcen zur Umsetzung verfügen. Wir glauben, dass gemeinsame Ziele und Werte, Transparenz und Vertrauen sowie Charakter- und Bewusstseinsarbeit Schlüssel zu einem nachhaltigen hierarchie-freien Entscheidungssystem sind, das die Macht in der Gruppe verteilt. Wenn Konflikte entstehen, gehen wir sowohl auf die strukturellen Hindernisse als auch auf die zwischenmenschlichen Muster ein, die dabei eine Rolle spielen.

“Um Basisdemokratie zu verwirklichen, muss die Innenwelt der Menschen in Richtung der Demokratietauglichkeit verändert werden. Die Idee der Basisdemokratie ist dann richtig, wenn alle Teilnehmer fähig sind, für die Gruppe Verantwortung zu übernehmen. Dafür braucht man Menschen, die ihrem Gewissen folgen und die bereit sind, das gemeinsame Interesse über das Eigeninteresse zu stellen.“
DIETER DUHM
“Es gibt selten eine Lösung, bei der jeder seine Präferenzen umsetzen kann. Fast immer gibt es jedoch eine Lösung, bei der jeder bereit ist mitzumachen. Bereitwilligkeit zu kultivieren bedeutet, jedem zuzuhören und jeden dabei zu unterstützen, den anderen zuzuhören und sich somit dafür zu öffnen, auch deren Belange zu berücksichtigen. (…) Der integrative Entscheidungsfindungsprozess entsteht durch die Erweiterung des Spektrums der einbezogenen Bedürfnisse sowie durch das Vertrauen darauf, dass es Lösungen gibt, die für alle funktionieren. (…) Meines Erachtens ist die tiefste Ebene, auf der Integration stattfindet, die wechselseitige Beeinflussung .”

 

MIKI KASHTAN

Unser Konzept

 

Die Organisations- und Leitungsstrukturen in unserer Gemeinschaft entwickeln sich ständig weiter. In den letzten 10-15 Jahren hatten wir eine Art Rätesystem auf verschiedenen Ebenen, wobei die jeweiligen Fachbereiche, die Entscheidungen in ihrem Ressort trafen, und ein aus den Leitern der Bereiche bestehender Trägerkreis den Gesamt-Überblick und die übergreifende Koordination zuständig waren. Daneben gab es ein Orga-Team für die Gesamtgemeinschaft. In den letzten Jahren hat unsere Gemeinschaft an Größe und Komplexität zugenommen.

Die bestehenden Strukturen haben dem Ziel, auch komplexe Entscheidungen auf eine Weise zu treffen, die sowohl Vertrauen als auch Effizienz ermöglicht, nicht mehr gedient. Zwischen 2021 und 2023 haben wir nach einer Phase der strukturellen Auflösung einen Konsolidierungsprozess durchlaufen. Inspiriert vom Kollektiv “Nonviolent Global Liberation (NGL)  haben wir eine neue Entscheidungsfindungsstruktur entworfen, die wir derzeit probeweise für zwei Jahre anwenden. Unser Ziel ist es, Macht so weit wie möglich zu dezentralisieren und gleichzeitig das Zusammengehörigkeitsgefühl und das Vertrauen zu stärken. Unser derzeitiger Ansatz beruht auf den folgenden Prämissen:

 

  • Sowohl die traditionellen Top-down- als auch die alternativen, Konsens-basierten Entscheidungsstrukturen beruhen auf einem Zwangsparadigma – das heißt auf Vorausberechnung, Befehl und Kontrolle. Miki Kashtan sagt: “Solange wir nicht bewusst neue Systeme entwickeln und anwenden, folgen wir ererbten Konditionierungen.” Unser Ziel ist es, eine funktionierende Alternative zu den herkömmlichen Systemen zu schaffen. Dafür entwickeln wir Strukturen, in denen sich sowohl  Zusammengehörigkeitsgefühl bildet, als auch die Möglichkeit der freien Wahl eröffnet und dabei die Dinge in  Fluss kommen.
  • Entscheidungen werden am besten von den interessierten und betroffenen Menschen so nah wie möglich an der Stelle des Bedarfs getroffen, unter Einbeziehung derer, die über das nötige Fachwissen und/oder die Ressourcen für die Umsetzung verfügen.
  • In einem System dezentralisierter Leitungs werden die Funktionen, die früher von einer zentralen Stelle wahrgenommen wurden, durch gemeinsame Ziele und Vereinbarungen ersetzt. Eine klare Zielsetzung (purpose) ist von entscheidender Bedeutung, da sie unsere Entscheidungen und Vorschläge in eine gemeinsame Richtung lenkt. Diese Zielsetzung  ist der Teil der Vision, den wir jetzt umsetzen wollen und können. Hier überschneiden sich Leidenschaft, Notwendigkeit und Kapazität.

Wie wir Entscheidungen treffen

 

Ihrer Bereitschaft und Fähigkeit folgend finden sich Gemeinschaftsmitglieder zusammen, um Vorschläge zu entwickeln, wie wir kommenden Herausforderungen begegnen können. Dies geschieht in bestehenden Teams und Abteilungen. Wenn neue Bedürfnisse auftauchen, bilden Menschen ggf. Arbeitsgruppen, an denen sich jeder beteiligen kann, vor allem dann, wenn besonders komplexe und folgenschwere Entscheidungen anstehen oder wenn es um Entscheidungen  geht, wo das Vertrauen noch nicht weit reicht.

Anschließend bearbeiten und verfeinern wir die Vorschläge und stimmen über sie in einem zustimmungsbasierten Entscheidungsfindungsprozess ab, bei dem nicht mit Mehrheitsentscheidungen, sondern mit Integration gearbeitet wird. Bei der zustimmungsbasierten Entscheidungsfindung hat jeder die Möglichkeit, seine Rückmeldung zu geben und unter bestimmten Bedingungen auch ein Veto gegen einen Vorschlag einzulegen – bei uns ist das dann der Fall, wenn jemand glaubt, dass ein Vorschlag unserer Zielsetzung zuwiderläuft oder Schaden anrichten könnte. Gleichzeitig ermutigen wir diejenigen, die einen Vorschlag machen, und diejenigen, die ein Veto einlegen, ihre Bedürfnisse in eine überarbeitete Version zu integrieren und somit einen Vorschlag zu erstellen, der für alle funktioniert.

Diese Entscheidungsprozesse finden unter den Betroffenen statt. Entscheidungen, die sich nur auf die Menschen einer bestimmten Untergruppe der Gemeinschaft auswirken, werden von dieser Gruppe getroffen. Bei Entscheidungen, die erhebliche Auswirkungen auf Menschen außerhalb dieser Gruppe haben, werden diese zur Teilnahme ermutigt. Entscheidungen werden von denen getroffen, die sich  beteiligen wollen. Nur Entscheidungen, die alle oder viele Mitglieder der Gemeinschaft in erheblichem Maße betreffen, werden in einer monatlichen Vollversammlung getroffen.

Dennoch stehen Menschen immer wieder vor Entscheidungen, von denen sie nicht wissen, wie sie sie treffen sollen – wenn sie zum Beispiel nicht in der Lage sind, Meinungsverschiedenheiten zu überbrücken, mit Konflikten umgehen können oder sich fragen, wen sie einbeziehen sollen. In diesen Fällen können sich die Gemeinschaftsmitglieder an ein Team wenden, das ihnen bei der integrativen Entscheidungsfindung mit Rat und Tat zur Seite steht, Wissen und Techniken vermittelt und bei Gruppenprozessen unterstützt.

Wir sind in einem gemeinschaftlichen Lernprozess. Um unsere Leitungsstrukturen weiterzuentwickeln, haben wir ein Feedback-System eingerichtet, mit dem wir uns darüber auf dem Laufenden halten, wie sich Entscheidungen auf unser Leben ausgewirkt haben. Dadurch merken wir, an welchen Stellen wir noch nicht mit unserer Zielsetzung und unseren Werten übereinstimmen, wo unsere Vereinbarungen (insbesondere in Bezug auf die Entscheidungsfindung) verfeinert werden und welche Themen noch angeschaut werden wollen.

Umgang mit Konflikten

 

Wenn bei einem Entscheidungsfindungsprozess Konflikte auftreten, versuchen wir erst einmal zu verstehen, was sie ausgelöst haben könnte und bearbeiten dann die zugrunde liegenden Probleme. Mit den Konflikten arbeiten bedeutet, aus ihnen zu lernen, und nicht unbedingt, sie sofort zu lösen. Wir stellen immer wieder fest, dass viele Konflikte aus strukturellen Mängeln resultieren, wie zum Beispiel Hürden für die Beteiligung bestimmter Personen,unterschiedliche Meinungen über Inhalt und Umsetzung unserer gemeinsamen Prioritäten oder Werte oder schlicht Überforderung. Wir versuchen, diese Mängel durch unser Feedback-System sichtbar zu machen und Prozesse zu schaffen, mit denen wir sie bearbeiten und auflösen und auf ein von allen akzeptables Maß reduzieren können.

Wir stellen jedoch auch fest, dass der Grund vieler Konflikte nicht in der Sachfrage an sich zu finden ist, sondern in verborgenen emotionalen Mustern, Ego-Interessen und zwischenmenschlichen Konflikten. Um die psychologischen Fragen vom Sachthema zu lösen und zu bearbeiten, betreiben wir Bewusstseins- und Charakterarbeit, zum Beispiel in Prozessen wie dem Forum. In manchen Fällen löst sich der Konflikt dadurch auf. In anderen Fällen stellen wir fest, dass es nach wie vor eine Meinungsverschiedenheit gibt, die real das Thema selbst betrifft. Wir versuchen, die Divergenzen so weit wie möglich zu integrieren, also die Lösung zu finden, bei der alle mitmachen können, und wenn das nicht möglich ist, schließen wir einen Kompromiss.

Diese Arbeit verlängert manchmal kurzfristig unseren Entscheidungsprozess, aber sie ist der Schlüssel zum Aufbau und zur Aufrechterhaltung des Vertrauens innerhalb der Gemeinschaft. Ohne Vertrauen können Entscheidungen nicht umgesetzt oder längerfristig aufrechterhalten werden. In einem System des Vertrauens kann man keine Entscheidungen durchsetzen, die nicht von der Gemeinschaft unterstützt werden.

Beispiele: Wie wir Entscheidungen getroffen haben


Sabine Lichtenfels hatte die Vision, die Aula als Auditorium für unser internationales Friedensausbildung zu bauen. Sie teilte uns und anderen diese Vision mit. Das Bild wurde klarer und bekam Resonanz durch die unterschiedlichen Meinungen, die in den Räten und im Plenum dazu geäußert wurden. Es handelte sich also eher um eine Vision, deren Umsetzung eingeladen wurde, als um eine Entscheidung, die im Konsens getroffen wurde.

Diese Art von Prozess spiegelte sich auch beim Bau des Sees 1 wider: Inspiriert von den klaren Impulsen des ökologischen Visionärs Sepp Holzer schlug unser Ökologen Team vor, unsere Landschaft radikal umzugestalten und einen massiven Wasserretentionsraum zwischen dem Kulturzentrum, dem Gästehaus und der Aula zu bauen. Obwohl sich die meisten Menschen zu diesem Zeitpunkt nicht vorstellen konnten, dass der See jemals genug Regenwasser erhalten würde, um ihn zu füllen, war es nach intensiven Debatten das Vertrauen der Gemeinschaft in die fachliche Kompetenz unserer Ökologen und die Kraft einer starken Vision, die uns zu der Entscheidung brachten, die Wasserretentionslandschaft zu schaffen. (Die Entscheidung war, wie wir heute wissen, richtig.)

Ein weiteres interessantes Beispiel war der Prozess der Definition des gemeinsamen Zielsetzung für einen gemeinschaftlichen Arbeitsprozess, an dem etwa 50 Personen beteiligt waren. Eine Arbeitsgruppe legte einen ersten Vorschlag vor, den sie nach Anhörung der Fragen, Rückmeldungen und Bedenken der Gruppe verfeinerte. Wir nutzten das Verfahren der zustimmungsbasierten Entscheidungsfindung, um die verschiedenen Ebenen der Zustimmung, der Bedenken und des Vetos aufzuzeigen. Nachdem der ursprüngliche Textvorschlag mehrmals überarbeitet worden war. trafen wir eine Entscheidung. Dieser Prozess brachte jedoch mehr als nur eine spezifische Entscheidung. Während wir stundenlang zusammensaßen und über verschiedene Möglichkeiten sprachen, entdeckten wir unseren eigenen Traum wieder und sahen, dass auch andere ihn träumen. Indem wir uns auf ein gemeinsames Ziel hin ausrichteten, berührten wir auch solche Stellen, an denen wir den Glauben schon verloren hatten. Indem wir uns darüber austauschten, haben wir das Gefühl von Möglichkeit durch Gemeinschaft wiederbelebt. Dies führte dazu, dass eine große Gruppe – die “Co-Holding Group” – die gesetzten Ziele klar sehen kann und sich für ihre Umsetzung einsetzt – was für die Vitalität unserer Gemeinschaft von entscheidender Bedeutung ist.

Ergebnisse und Praktiken

 

  • Entscheidungen werden in der Gemeinschaft nicht privat getroffen. Wir orientieren uns an unseren ethischen Grundsätzen von Wahrheit, gegenseitige Unterstützung und verantwortliche Teilnahme am Ganzen, teilen unseren Alltag und lassen das Feedback der anderen in unsere Entscheidungen einfließen, um so eine vertrauensvolle Gemeinschaft aufrechtzuerhalten.
  • Vertrauen ist das Herzstück des neuen Ansatzes fürEntscheidungsfindungsprozesse in Gruppen. Damit die Gruppe gemeinsam Entscheidungen treffen kann, muss sie Vertrauen aufbauen und sich mit der zwischenmenschlichen Dynamik und den historischen Traumata auseinandersetzen, die im jeweiligen Prozess auftauchen. Dieses Vorgehen kann eine Entscheidungsfindung kurzfristig verlangsamen, aber die daraus hervorgehenden Entscheidungen sind in der Regel längerfristig tragfähig.
  •  Wir arbeiten auf den Aufbau unserer individuellen, natürlichen Autorität hin, indem wir unsere Wahrheiten aussprechen und uns der Entscheidungen bewusst werden, die wir treffen wollen, damit wir an solchen Stellen Macht nicht unbewusst missbrauchen.
  • Je mehr eine Gruppe mit einer gemeinsamen Zielsetzung zusammenarbeitet, desto mehr Kohärenz kann die Gruppe aufbauen. Wir wollen in Detailfragen effektive Entscheidungen treffen können. Als Grundlage dafür brauchen wir eine starke übergreifende Vision, eine gemeinsame Zielsetzung und gemeinsame Werte. Wenn wir in dieser starken Ausrichtung zusammenkommen, entsteht ein großes kreatives und transformatives Potenzial.
  • Ein wesentlicher Aspekt globaler Heilung besteht darin, individuelle Einzelentscheidungen durch gemeinschaftliche Entscheidungen zu ersetzen und das “Entweder-Oder” durcht  Integration. Damit stellen  wir uns in den Dienst des gemeinsamen Ziels, zum Wohle des großen Ganzen.

www.tamera.org